Abflug – eine Geschichte
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

Abflug – eine Geschichte

Ihre Freude auf die bereits begonnene Reise ist gross und die Sehnsucht nach der Ferne berührt die Herzen der beiden. Die Zugfahrt ist wie im Fluge vergangen aber eben in einem Zuge. Wenn die Reisenden nicht im Halbschlaf dösen, reden und lachen sie gemeinsam aus Freude auf die Reise an die Wärme. Zu Ende der Zugfahrt verfliegt die Müdigkeit gänzlich, die Reisenden sind erwacht. Nächster Halt: Zürich Flughafen. 07:35 Uhr Gepäckaufgabe beim Check-in. Die nette Dame am Schalter trägt kurze Haare. Ihr Gesicht ist bedeckt von einer dieser Mundschutzmasken, die seit einiger Zeit zum Bedauern vieler überall getragen werden. Was sagten wohl die Menschen von früher dazu? Ob sie uns moderne digitalisierte und zu immer absurderer Moral gezwungene Menschen vielleicht sogar bemitleidet hätten? Wären wir in ihren Augen haltlose Spinner ohne Lebenssinn und Zweck.


Die Frau am Schalter meint alle elektronischen Geräte müssten im Handgepäck verstaut werden. Damit versaut sie den Reisenden das wohl geordnete Gepäck, denn die beiden müssen nach Batterien und Geräten kramen. Was im Gepäck übrig bleibt, ist das reinste Chaos. Danke, Flughafenpersonal. Wieder eine Frage der Schuld, auf die hier aber nicht eingegangen wird. Schliesslich können die beiden Reisenden ihr Gepäck doch noch aufgeben. Der Boardschein wird ausgestellt. By the way: wieso überhaupt werden überall diese englischen Words benutzt?


Die Reisenden haben noch nicht gefrühstückt und verspüren nun langsam aber sicher aufkeimenden Hunger. Ein Kaffee, ein Wasser und ein Sack Gipfeli später sind die beiden abflugbereit. Nun ist es jedoch der Flieger der streikt. Ein neuer muss her, wird gesagt, die Reisenden verdrehen die Augen, das ist gewagt.


Eine Stunde später. Der zuständige Beamte fürs Geschwätz hält seine nutzlose und von den Reisenden völlig ignorierte Rede, erzählt unwichtiges und unwichtigeres. Irgendwann werden die Passagiere in einem unscheinbaren Nebensatz der Rede gebeten, sich für den Eintritt ins Flugzeug einzureihen. Jawohl, mein Führer! erklingt es wie aus einem Chor von den Passagieren her. Mehrbessere, Eltern mit kleinen Goofen und Eingeschränkte sowie andere Individuen, die nicht der aktuellen Norm der Ferienflieger entsprechen, dürfen zuerst einsteigen.


Die Reisenden halten ihre Boardingkarten an den Laserscanner, die Schleuse öffnet sich, dann betreten die beiden Reisepassagiere den Gang zwischen Himmel und Erde, zwischen Flughafen und Flugzeug. Es ist als ob man zwischen den Welten hängt und dabei die Unbestimmtheit des Seins mit einem Mal erfährt. Was wenn der Flieger abhebt, bevor sie eingestiegen sind? Was wenn du der Flug im allerletzten Moment abgesagt würde und alle Mühen dieser bisherigen Reise und der Vorbereitungen umsonst waren? Wäre das erduldbar? Ist der Durchschnittsbürger in der Lage so etwas auszuhalten?


Dann stehen sie im Flugzeug. Einige Passagiere haben sich bereits gesetzt und starren nun unentwegt ihre Mitflieger an. Ist denen bewusst, dass das für einige Individuen als sehr unangenehm empfunden wird? Für einige ist es nicht möglich aufhören zu starren. So starrt man zuerst zurück und wenn keine Regung sichtbar wird, fängt man an Grimassen zu schneiden, bis die Idioten vor Scham ihren Blick abwenden.


Der jüngere der beiden Reisenden erschrickt ein bisschen an der Zahl der Menschen, die auf kleinstem Raum zusammengepfercht sind. Seit Jahren schon hat er kein Flugzeug mehr von innen gesehen. So ist dieses Bild zwar etwas Bekanntes, aber doch wieder neu und ungewohnt.


Nach einer dreiviertel Ewigkeit hat jeder seinen Platz eingenommen. Je nach Gepäck und Vorliebe des Eigentümers wurde es über den Köpfen oder zwischen den Beinen verstaut. Die Stimmung der Menschen ist gemischt. Einige Mitflieger erwecken den Anschein in tiefster Entspannung zu schwelgen, während deren direkte Sitznachbarn nervös hin und her blicken und sich insgesamt unruhig verhalten. Wer wohl mehr Angst hat? Die Angst zu kontrollieren ist das eine, doch die Grundlage ist die Angst selbst. Je grösser die Angst, desto grösser der Aufwand sie zu unterdrücken. Hat nicht jeder Angst vor einem Flugzeugabsturz? Genauso könnte man fragen; weshalb soll man das Ungewisse fürchten? Oder: Ist vermeidbares zu unterlassen?


Das Flugzeug dockt vom Terminal ab und die Türe schliesst sich. Der Pilot fährt seine Maschine auf die Startbahn wie ein Rennfahrer seinen Wagen auf die Rennpiste. Jeder Passagier sitzt, das Gepäck ist verstaut und der Flieger erreicht die Startposition. Der Tower gibt das okay zum Start.


Durch die Zugkraft der Beschleunigung werden die Passagiere in ihre Sitze gedrückt. Die einen ängstigen sich mehr, andere weniger. Es gleicht sich aus. Das Schreien und Kreischen der Kleinkinder verstummt im Augenblick des Abhebens. Die ganze Welt steht still und der Flieger macht sich auf in die Lüfte. Die Welt in den Wolken ist sorgenfrei.

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