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Dioramen lesen I/IV
Bild/Illu/Video: Ekki Helbig

Dioramen lesen I/IV

Doch seine eigenen Dioramen gehen noch etwas weiter. Ekki Helbig weiß Dinge: «I read Comics, and I know things». Für seine Schaukästen, die manchmal aus interessanten Sperrmüllschubladen oder gar Nähkästchen bestehen können, verwendet der Künstler alles, was ihm im Alltagsleben unter die Finger gerät. Im Diorama ist das Ganze frei nach Aristoteles (384–322 v. Chr.) mehr als die Summe seiner Teile. Die Einzelteile sind in ihrem Ursprungssein nur noch für den Kenner oder den «Wissenden» auszumachen, so sehr hat sie Ekki Helbig miteinander verflochten und die ursprüngliche Form alltäglicher Gegenstände überschrieben und verfremdet. Helbigs zusammengestellte Bausätze reichen vom Kinderspielzeug und der Sammelfigur bis hin zu Puppenstuben- und Modelleisenbahnzubehör, selbst gesammelten Naturstoffen (Blüten, Rinde, Gräser etc.), gefundenen und erfundenen Kuriositäten, Schmuck zu höchstpersönlichen Gegenständen, sogar Merchandise-Artikel des Frankfurter Comicbuchladens werden schonungslos verbaut. So kann es passieren, dass sich ein Kronkorken zur Sonne und die synthetische Salamihaut in eine Wolkenfront verwandelt.  


«Manchmal müssen seriöse Figurensammler stark sein», betont Ekki Helbig in einem Facebookbeitrag, wo er die Verwandlung einer Squirrel-Girl-Figur dokumentiert, indem er diese mittels Serviettentechnik neu einkleidet, bemalt und das kriegerisch anmutende Eichhörnchen entfernt. Der Diorama-Titel verrät, was aus dem einstigen Squirrel-Girl geworden ist: «Die Buchspringerin» (Mixed Media, 2021). Im Zentrum des Dioramas springt die Frau aus einem alten Tagebuch, das aufgeschlagen den Hintergrund des Schaukastens bildet und über Gegenstände und das Meer sinniert. Selbige Gegenstände (Enterhaken, eine Schatztruhe, Muscheln) breiten sich unter dem im Sprung erstarrten Girl aus. Eine Befreiung aus der Alltäglichkeit eines Buchrückens, die sich links und rechts an die Szenerie anlehnen und mit dem Meer die rechteckige Kastenform bilden. Das Diorama wird auf vielen Ebenen in der Betrachtung lesbar. Die Schaukastenform ist dabei ebenfalls an die Panels des traditionellen Comicbuchs angelegt. Sie wird als Diorama in die Welt gestellt, der flachen, zweidimensionalen Form enthoben und damit neu interpretierbar. Man könnte gar von einem Befreiungsakt sprechen, einem Sprung in die Welt der Lesenden. Dabei spielen Texte oder die Verweise auf diese weiterhin eine übergeordnete Rolle.


Die Figuren scheinen sich davor zu bewegen, in ihnen oder durch sie hindurch zu leben. So manches Mal wird ein augenscheinliches Stillleben über den Text, der zunächst im Hintergrund steht, belebt. Grenzen werden innerhalb des Kastens, der ja als Form klar umrissen ist, aufgehoben. Diese Aussage lässt sich ebenfalls auf den Erfahrungs- und Lesehorizontes eines Comicbuches übertragen. Die Form unterstreicht demnach die inhaltliches Aussage. Denn schon Novalis wusste: «Kommen die fremdesten Dinge durch einen Ort, eine Zeit, eine seltsame Ähnlichkeit zusammen, so entstehen wunderliche Einheiten und eigentümliche Verknüpfungen».

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