Fliegen ist grenzenlos
Die Churerin hat sich sehr auf ihren ersten Tandemflug gefreut. Drei Daten waren reserviert – gleich beim ersten Mal klappt es. Zwar wird der Himmel grauer und grauer an diesem Samstagmorgen. Auf dem Tagesprogramm der Schule steht: «Mix aus Wolken und Sonne, gegen den Nachmittag eventuell Schauer.» Doch es geht alles gut.
Da der Wind günstig ist, dauert es am Startplatz Fronalp nicht lange, bis sie und Roman Schaad entschweben. Beide übrigens mit Masken.
Nervös ist Melina Maffei vor dem Start nicht. Sie verspüre nur ein leichtes Kribbeln – «wie auf dem höchsten Punkt einer Achterbahn», meint sie. Sie hoffe einfach, dass der Flug Spass mache. Und das tut er. Das Gefühl, in der Luft zu sein, und die Aussicht in die Glarner Berge begeistern die junge Frau. Angst hat sie während des rund 20-minütigen Flugs keine; sie fühlt sich sehr sicher. Als Roman Schaad fragt, ob sie Action wolle, antwortet sie bestimmt: «Ja, sicher.» Die Kapriolen sind denn auch ein Highlight für sie. Kurz darf sie sogar selber steuern, was sie jedoch als anstrengend empfindet: «Da ist ein mega Zug drauf.»
Auch die Landung auf dem Talboden beim Flugplatz Mollis verläuft problemlos und angenehm. Hier steht der Rollstuhl wieder bereit. «Es war atemberaubend, ein mega schönes Erlebnis. Ich kann es nur weiterempfehlen», lautet das Fazit der 24-Jährigen.
Melina Maffei arbeitet in Chur bei der Pro Infirmis Graubünden. Ihr Chef Thomas Heer hatte die Idee für den Tandemflug. Der Molliser ist Bereichsleiter Bildung der Pro Infirmis Glarus, leitet den Bildungsklub Glarus/Graubünden sowie den Fachbereich Begleitetes Wohnen Graubünden. Den Anstoss gab ihm der Slogan «Die Zukunft kennt kein Hindernis» zum 100-Jahr-Jubiläum der Pro Infirmis. «Ich suche meistens nach dem Speziellen im Einfachen, nach Kreativität und Erleben», erzählt er. Wo gibt es «Hindernisse» für Menschen mit einer geistigen und vor allem körperlichen Beeinträchtigung, etwas, das behinderten Menschen viel Überwindungskraft abverlangt, ja ihnen sogar als unmöglich erscheint? Ja klar, beim Fliegen. Einmal frei sein wie ein Vogel. «Es ist für viele Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht klar, dass sie mit der nötigen Unterstützung ihren Traum leben können. Sie sind zu viel mehr fähig, als sie selbst glauben», betont der Bildungsklubleiter.
Bei der Firma Robair in Mollis fand er die entsprechende Unterstützung. «Es war toll, dass wir Melina Maffei diesen Flug ermöglichen konnten und es ihr so gut gefallen hat. Sie hat Mut bewiesen und ist über sich selbst hinausgewachsen. Froh bin ich, dass das Wetter gehalten hat», sagt er bei der abschliessenden Besprechung.
Thomas Heer hofft, mit dieser Aktion auch andere Menschen zu motivieren, sich ihren Traum vom Fliegen zu erfüllen. «Wir werden jede Anfrage genau prüfen und abklären, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen erfüllt sind», verspricht er. Denn: «Inklusion ist unser Ziel. Eine inklusive Gesellschaft anerkennt die Vielfalt der Menschen als Stärke. Menschen mit Behinderung nehmen selbstbestimmt und ohne gesellschaftliche Barrieren an allen Lebensbereichen teil. Auf dieses Ziel arbeiten wir hin.»
Melina Maffei lächelt bei diesen Worten. Ihre Abenteuerlust ist geweckt; sie denkt bereits an ihr nächstes Ziel: Irgendwann möchte sie einen Fallschirmsprung absolvieren. Den Grundstein hat sie an diesem Samstag in Mollis gelegt.
Der Bildungsklub
mb. Das Angebot des Bildungsklubs von Pro Infirmis umfasst Kurse in den Bereichen Allgemeinwissen, Kultur, Soziales, Persönlichkeitsbildung, Gesundheit und Alltagsbewältigung. Sie ermöglichen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, auf individuelle Art und Weise die eigene Persönlichkeit und ihre Stärken weiterzuentwickeln, behindernde Bedingungen und Umstände zu überwinden und selbstbestimmter zu leben. Nach den Sommerferien werden die Kurse unter Berücksichtigung der nötigen Schutzmassnahmen wieder angeboten.
Die 100-jährige Fachorganisation Pro Infirmis berät, begleitet und unterstützt Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen sowie ihre Angehörigen. Sie setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderung am politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilhaben können: «Inklusion ist eine Aufgabe für uns alle.» Denn nur so kennt die Zukunft kein Hindernis.
Dieser Artikel ist ursprünglich in der «Glarner Woche» erschienen.
Bildlegenden
Bild 1 Start mit zwei Helfern auf Fronalp.
Bild Robair
Bild 2 In der Luft – was für ein Gefühl!
Bild Robair
Bild 3 Der Tandemflug ist ein unvergessliches Erlebnis.
Bilder Madeleine Kuhn-Baer
Bild 4 Sicher gelandet in Mollis.
Bild 5 Thomas Heer und Melina Maffei bei der Nachbesprechung – fürs Bild ohne Masken.