
Mein Spiessrutenlauf durch die Geschäfte
Also nehme ich den Spiessrutenlauf durch die Geschäfte an der Bahnhofstrasse auf mich. Ich habe maximal zwei Stunden Zeit, bevor mein Stillkind nach mir verlangt. Die Zeit läuft.
Auf der Suche nach einem Parkplatz biege ich in die Bahnhofstrasse ein. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre Corona vorbei: Mamas flanieren mit Kinderwagen durch die Einkaufsmeile, Pärchen bummeln händchenhaltend an den Schaufenstern vorbei und die Senioren geniessen Kaffee und Kuchen im Strassencafé. Tatsächlich ist mein Lieblingsparkplatz am Ende der Strasse frei. Bezahlen muss ich auch nicht, die Parksäule ist umhüllt mit Plastik, die Parkplatzbewirtschaftung wurde wegen Corona ausgesetzt.
Ich betrete das erste Kleidergeschäft und staune nicht schlecht: Lediglich ein verlassener Desinfektionsmittelstand in einer Ecke erinnert daran, dass vor kurzem noch alle Läden, die nicht für die Grundversorgung zuständig sind, wegen der Corona-Pandemie geschlossen werden mussten. Ansonsten ist hier der aktuelle Ausnahmezustand nicht (mehr) spürbar. Es gibt zwar an der Kasse Plexiglas und Sicherheitslinien, aber diese gehören ja mittlerweile schon fast zum Einkauferlebnis dazu.
Ich eile ins Schuhgeschäft gegenüber. Mein 3-Jähriger hat seine Turnschuhe auf unserer täglichen Spazierrunde während der zwei Quarantäne-Monate abgewetzt und braucht dringend neue. Beim Eingang muss ich aber zuerst einmal stehen bleiben und die A4-Seite mit Anweisungen studieren: «Hände desinfizieren», ok noch einmal; «eine Nummernkarte ziehen», ok - Blick auf die anderen Besucher - ich sehe zwar keine anderen mit einem Kärtchen in der Hand, aber ich nehme jetzt einmal eins mit. Im Laden selbst herrscht aber auch keine angespannte Stimmung. Eine Verkäuferin berät mich überaus freundlich und hat dabei offensichtlich auch keine Angst vor Körpernähe. Mir soll es Recht sein. Ich persönlich aber halte Abstand.
Beim nächsten Laden, einem Drogeriemarkt, gibt's beim Eingang selbsthergestelltes Desinfektionsmittel mit pflegender Wirkung. Tatsächlich brennt die Flüssigkeit weniger auf meiner Haut, dafür riecht es nach Chlor. Ich schwöre mir, die Desinfektionsstelle beim nächsten Geschäft auszulassen. Tatsächlich getraue ich mich das aber nicht: Das Kaffeehaus ist klein, die Kasse direkt beim Eingang und die Gäste vor mir desinfizieren alle brav ihre Hände. Unglaublich dieser Gruppenzwang! Aber immerhin bekomme ich noch kurz vor der Mittagspause des Geschäfts einen leckeren Milchkaffee mit Haselnuss-Aroma und einer grossen Portion Schlagrahm oben drauf. Nach dieser Stärkung schaffe ich auch das vierte und letzte Geschäft auf meiner To-Do-Liste.
Ich betrete den Lebensmittelladen und laufe zielstrebig am Stand mit Desinfektionsmittel und Einweghandschuhen vorbei – ohne links und rechts zu schauen, obwohl ich mich beobachtet fühle. Aber komme was wolle, noch einmal lasse ich diese ätzende Flüssigkeit heute nicht an meine Haut, denke ich zumindest. Spätestens als sich die Kassierin die Nase putzt, bevor sie meine Waren einscannt, ändere ich meine Meinung. Beim Rausgehen bediene ich mich wieder freiwillig beim Desinfektionsmittel.
Mein Fazit nach dem Spiessrutenlauf durch die Desinfektions-Stationen, äh Geschäfte: Wunde Hände und 300 Franken weniger in der Tasche. Dafür haben meine Kinder jetzt wieder etwas Ordentliches zum Anziehen und ich hatte dazu auch noch eineinhalb Stunden Exklusivzeit für mich – inklusive ungestörter Kaffeepause…