
«Die japanische Brücke» - Protokoll einer Bildbetrachtung
Vor mehr als 20 Jahren, im März 1999, schrieb die NZZ über die damalige Monet-Ausstellung in der Royal Academy in London:
«In Monets Spätwerk hat die Form abgedankt, ... Wir sind in einer anderen Welt, einem Kosmos aus lauter Licht und Farbe, wo alles fliesst, einem Ort ohne Erinnerung. Es gibt nur Zukunft.» (NZZ, 19.03.1999)
«Es gibt nur Zukunft!» Dies klingt gewagt, mutig, drangvoll, aber schon das Motiv des Bildes widerspricht dieser These. Was ist die Funktion einer Brücke? Sie verbindet zwei Punkte im Raum, sie bietet Zugang zu neuen Arealen, sie über-brückt Hindernisse, sie verbindet bisher Unverbundenes, sie erlaubt neue Perspektiven auf Zurückliegendes. Diejenigen, die über diese Brücke schreiten, lassen einen Raum nur scheinbar hinter sich, auch wenn ihre Höhe manchmal schwindeln lässt und neue Perspektiven verunsichern. Eine Brücke aber, die bestehen will, ist solide im Alten wie in Neuen verankert. Obwohl: solide? Manchmal treten Schwindelgefühle auf, weil sich die Brücke während der Überquerung bewegt, verändert.
Und es ist atemberaubend, wie sich Monets Brücke in 24 Jahren verändert hat. Die Formen sind selbstverständlich geworden, die Konzentration des Augenmerks verlagert sich von der Erstellung des Rahmens, der Elemente der Konstruktion auf den Ausdruck des Wesentlichen: auf das Zusammenspiel der Farben und das Spannungsfeld ihrer Kontraste. Aus dem aufbrechenden Grün ist ein reiferer Braunton geworden, die Stimmung ist weniger zart, eher kraftvoll und aus dem Bild scheinen farbige Flammen zu lodern.
«Wir sind in einer anderen Welt, einem Kosmos aus lauter Licht und Farbe, wo alles fliesst», schrieb unser Rezensent. Dass philosophisch gesehen alles fliesst, ist seit Heraklit ein Geeinplatz geworden, aber genau gesehen fliesst bei Monet überhaupt nichts: starr ruht der See, die Seerosen scheinen unbeweglich, von keinem Wind bewegt. Aber vertikal ist die Hölle los! Die Farben der Brücke scheinen zu schmelzen, scheinen Spuren zu hinterlassen, die in sich ihrer Intensität in die Rückwände der Augäpfel brennen, eindrücken, sind Impressionen eben.
Monets Bilderreihe wirkt auf mich wie eine Lektion, eine Anleitung für ein erfülltes Leben: zu Beginn, traue Dich, Dich in einem mutigen Bogen zu neuen Höhen aufzuschwingen, neue Areale mit alten zu verbinden, Unwegbares zu überspannen, zu Beginn, während des Anstiegs, wie der Narr im Tarot den Blick in die Weite gerichtet. Dann arbeite an der Form, nicht «festgemauert in der Erden», sondern leicht und luftig die Weite durchquerend. Wenn dieses solide Fundament steht, löse Dich von der Form, vergiss die Erdgebundenheit und lebe die Farben.
Formen verändern, entwickeln sich nicht mehr, Inhalte, Farben immer. Als hätte Monet in Meister Zhuangzis Das wahre Buch vom südlichen Blütenland gelesen, in dem er schreibt:
«Worte sind da, um Gedanken zu vermitteln; wir wollen die Gedanken behalten und die Worte vergessen.»
Die Bewegung weg von der fassbaren, materiellen Form hin zum visuellen Eindruck scheint parallel zu laufen mit einem Sich-Lösen aus den «Verkrustungen des Verstandes», wie Karin Sagner-Düchting schreibt, hin zum rein subjektiv wahrgenommenen, visuellen Eindruck, von dem Kunstwerk, dauerhafter denn Erz, hin zum flüchtigen, farb-explosiven Moment, gesehen und schon vergangen.
Für Monet scheint dabei gerade das Gegenteil der Fall zu sein. Die Serialität seiner Bilder nähert sich an die zeitgenössische Idee der sich in konstanter Bewegung befindlichen Materie an, in der die Veränderung, also die Bewegung, immer wieder neu dargestellt wird und gleichzeitig auf dem Dauerhaften ruht, das alle Dinge verbindet. Andy Warhols Marilyn – Serienbilder sind vielleicht ein spätes Echo auf Monets Bilder der japanischen Brücke.
Vielleicht wäre das allein schon ein sinnvoller Lebenssinn ...