
«Je länger je mehr wird alles eins.»
Für Sarah Clavadetscher war immer schon klar, dass in ihr ein grosser Drang vorhanden ist, sich musisch auszudrücken. Einen klassischen Erweckungsmoment habe es deshalb nicht gegeben. «Ich kann nicht sagen, etwas hätte irgendwann angefangen. Wohl aber ist es mir gelungen, meinen kindlichen Entdeckungs- und Schaffensdrang zu erhalten und als künstlerische Arbeit fortzusetzen.» Hilfreich dabei sei sicher die gelegentlich herrschende Langeweile als Kind gewesen, wenn nicht Schule oder allenfalls Feldarbeit angestanden habe. «Dieser Freiraum ermöglichte es mir, in meine Ideen zu versinken und mich gestalterisch zu entwickeln. Farbstifte und Papier, die Nähmaschine meiner Mutter, alte Leintücher, ein Kassettenrekorder, meine Stimme und die Natur waren meine Welt als Kind.»
Der Vorkurs war eine Offenbarung
Doch ganz so federleicht, wie das klingt, war es auch für Clavadetscher nicht. Auch sie habe im Verlaufe ihrer Schulzeit ihre Leidenschaft für die Künste immer mehr verdrängt. «Meine Prägung und der Vorsatz, etwas ‘Vernünftiges’ zu lernen, haben das ihrige dazu beigetragen. Aber kurz vor der Matura habe ich die Kurve gekriegt und mich besonnen.» Ihrem Vater musste sie - als erstes Kind der Förster- und Bauernfamilie, das Gymnasium besucht - beibringen, dass sie ein Jus-Studium nicht interessiere und sie an die Kunsthochschule wolle. Doch es habe sich gelohnt. «Der gestalterische Vorkurs an der damaligen Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich war dann eine Offenbarung. Und doch habe ich aber nach dem Vorkursjahr mit Art Education das ‘vernünftigste’ Studium gewählt.»
Bild und Klang stärker vereinen
Sarah Clavadetschers Bilder und Musik fliessen immer mehr ineinander. «Je länger je mehr wird alles eins. Seit einigen Jahren merke ich, wie dieselben Themen in meiner bildnerischen und meiner musikalischen Arbeit kreisen.» Das sei ein Prozess, der erst über die Jahre stattgefunden habe. Früher seien die Disziplinen stark getrennt in verschiedenen Projekten gewesen. «Als Singer-Songwriterin She, York habe ich im Jahr 2016 mein erstes Album veröffentlicht. Bei den damit verbundenen Auftritten habe ich immer wieder gemerkt, dass mir das Gebaren der Pop-Bühne eigentlich widerstrebt und ich nach roheren und intimeren Momenten strebe.» Diese finde sie mehr in der Bildenden Kunst. Gleichzeitig bewege sie keine andere Kunst so sehr wie Musik. Darum habe sie sich zum Ziel gesetzt, in Zukunft Bild und Musik in ihrer Arbeit stärker zu vereinen.
«Guntersch» im Fokus
Während andere Künstlerinnen und Künstler von den grossen Dingen und Emotionen angezogen werden, findet Sarah Clavadetscher ihrer Inspiration an einem anderen Ort. «Die Stille. Das Wenig. Oder Nichts. Ich suche gerne nach dem Grossen im Kleinen. Meine Arbeiten wirken häufig recht monochrom. Immer wieder habe ich das Bedürfnis auszubrechen, hätte Lust auf grosse Farbexplosionen.» In ihr drin sei es farbig, auch wenn es von aussen eher still wirke. Für die Ausstellung in Vaduz hat Clavadetscher sich von einem unbewohntem Haus in Conters inspirieren lassen. Es sind nicht nur Erinnerungen, die bei der Künstlerin beim Betrachten der Bilder aufflackern. Es ist auch so, dass in dem Haus, wo ihre Grosseltern mal zuhause waren, eine ganz spezielle Atmosphäre herrschte. «Die Zeit darin steht still, seit mein Nani das Haus verlassen hat. Man hat das Gefühl, als wäre es erst gestern noch belebt gewesen. Es steht an einem Wendepunkt in seiner Geschichte.» Dieses Aussergewöhnliche wollte sie festhalten in Form einer Videoinstallation mit einer Soundcollage unter dem Titel «Guntersch. An Imaginary Landscape». Ein wichtiger Bestandteil ihres Kunstobjekts sei zudem ein eigentlich gewöhnlicher Vorhang. «Der stammt original aus dem Haus meiner Grosseltern in Conters, wo er wohl um die 50 Jahre zuverlässig diente. Das Haus von meinem Nani und Ehni und speziell ein Zimmer mit einem Harmonium ist Kulisse und Inhalt meiner Arbeit. Ich habe das Haus über das letzte Dreivierteljahr immer wieder aufgesucht und viele Gespräche mit meinem Nani geführt.»
Die selbstgelismeten Puppenkleider
Es habe eine Weile gebraucht, bis sie wieder von ihrer alten Heimat Prättigau angezogen wurde, sagt Clavadetscher, die seit August 2024 die Kunstschule Kunstpol in Chur leitet. «Die Fremde hat mich viele Jahre angezogen. Als junge Erwachsene bin ich gerne ausgebrochen, um fremde Kulturen und Länder kennenzulernen.» Es sei ihr in der Sturm und Drang-Zeit ähnlich gegangen wie vielen anderen. «Ich fühlte mich im Tal Lugnez eingeengt und häufig fremd als Walser-Rätoromanin.» Eine Veränderung habe ein Sabbatical für ihre künstlerische Arbeit in Toronto in Kanada gebracht. «Dort fühlte ich mich wohl inmitten Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen. Die trennende Frage nach den Wurzeln war unwichtig. Durch diese Erkenntnis und die räumliche Distanz, habe ich einen neuen Zugang gewonnen.» Mit ihrer neuen Arbeit lässt Clavadetscher ihre Kindheit aufleben. Denn bis zum Kindergarten hat sie und ihre Familie in Saas gelebt. Das Prättigau sei für sie inzwischen vor allem ihr Nani und ihr inzwischen verstorbener Ehni in Conters gewesen. «Darum sind auch meine schönsten Erinnerungen stark an sie und unsere Besuche mit den Eltern bei ihnen gebunden. Die schönen Kleider, die mein Nani für unsere Puppen mit viel Herzblut gelismet hat, zieren heute die Puppen meiner Kinder.» Ein Besuch in der Bude von Ehni sei ausserdem Pflicht gewesen, bevor sie sich jeweils auf die Fahrt nach Hause ins Lugnez gemacht hätten. «Dort konnten wir seine Miniatur-Holzställe und allerlei Möbel und Bilderrahmen bestaunen, wovon mich auch heute einiges im Alltag begleitet.» Also kann man sagen, dass der Apfel auch hier nicht weit vom Stamm fällt, wie auch Clavadetscher lachend ergänzt. «Insbesondere ist es wahrscheinlich auch der Schaffensdrang und die Geisteshaltung meiner Grosseltern, die mich auf meinem Weg begleiten.»