10 alpspektakel 10 Bluesanovas 27.10.23 10 LNDM
The Street: Like a House on Fire – oder eben nicht
Bild/Illu/Video: Marcus Duff

The Street: Like a House on Fire – oder eben nicht

Im Laufe der Lektüre drängen sich mir immer wieder zwei Filme auf, die sich vor meinem geistigen Auge zusammen mit meinen eigenen Fantasie-Bildern synästhetisch zu einem Ganzen formen. Die erste Erinnerung ist die Eingangssequenz zu Alfred Hitchcocks Psycho mit ihrer unendlich langen, ungeschnittenen Einstellung, in der sich die Kamera auf die Stadt zubewegt, durch die Strassen fährt und dann in einem Zimmer einer Frau beim Kofferpacken zusieht. Die zweite Sequenz ist Spike Lees Film Do The Right Thing von 1989, der zwar in Brooklyn spielt und nicht in Harlem, aber auf ähnlich Weise Einzelschicksalen folgt und zu einem pulsierenden, leidenden Leben auf und um die Strasse herum verknüpft, das in Gewalt und Tod kulminiert.


Wie in Psycho beleuchtet Ann Petry mit einem sich bewegenden Scheinwerfer verschiedene Figuren im Umfeld der 116. Strasse in Harlem. In dieser Strasse weht ein kalter Wind, den die zentrale Figur, die attraktive Lutie Johnson, ganz besonders zu spüren scheint. Sie hat gerade ihren Mann Jim verlassen, den sie mit einer anderen Frau angetroffen hat, und sucht und findet für sich und ihren 8-jährigen Sohn Bub in der 116. Strasse ein billiges Apartment im 5. Stock eines heruntergekommenen Mietshauses, das ihr vom Verwalter Jones vermietet wird. Der Verwalter Jones, seine Mitbewohnerin/Untermieterin/Konkubine Min und die Leiterin des hauseigenen Bordells im ersten Stock, Mrs. Hedges, sind zusammen mit einigen wenigen anderen Figuren die Charaktere, deren Lebensgeschichte die Erzählungen im Roman ausmachen. Alles rotiert immer wieder um Luties Kampf einerseits ums Überleben in Harlem und der vagen Hoffnung auf die Möglichkeit, diese Strasse zu verlassen, und andererseits um den Einfluss der Strasse selbst mit ihrer Atmosphäre von Diskriminierung, erlebtem Rassismus, Gewalt und Hoffnungslosigkeit.


Der Roman wird immer aus der Innensicht der wechselnden Charaktere erzählt, beklemmend, verstörend, aber in der Verzweiflung immer fesselnd. Gleichzeitig gibt die Erzählstimme aber kontinuierlich Informationen, Reflexionen und Beurteilungen der Situation aus der Perspektive der Charaktere ab, die mich etwas aus der sehr realistischen Darstellungsweise geworfen haben. In meinem Kopf läuft nur sehr selten dieser Grad von Bewusstheit und laufender Einordnung in mein bisheriges und momentanes Leben in dieser Intensität ab, wie dies bei den meisten Roman-Charakteren Petris ständig der Fall ist.


Dadurch gewinnen die Charaktere aber an Tiefe, brechen aus der jeweiligen gegenwärtigen Situation aus und werden, wenn auch in unterschiedlichem Masse, einerseits zu den Ergebnissen ihrer persönlichen Geschichten, andererseits zu Modellen, die illustrieren, wozu lebenslange Unterdrückung, Entmenschlichung und Stereotypisierung als geistig unterbelichtet, sozial unfähig und sexuell dauerfeuernd führen können: zum Versuch, die an einen gestellten, sowieso niedrigen Erwartungen noch zu unterbieten. Benjamin Franklins amerikanischer Traum besagt, dass jede/r es schaffen kann, gesellschaftlich und finanziell erfolgreich zu sein, wenn er/sie es nur konsequent genug versucht. Dass dies nur ein fragwürdiger – wenn auch nützlicher – Mythos ist, zeigt in ähnlich beklemmender Weise David Mahmet in seinem verfilmten Theaterstück Glengarry Glen Ross aus dem Jahr 1992 mit einem fantastischen Jack Lemmon und einem Alec Baldwin, der seine Bestimmung noch nicht als Kopie von Donald Trump in Saturday Night Live gefunden hatte. Dort sorgt der American Dream dafür, dass diejenigen, die oben sind, oben bleiben und die, die unten sind, nicht gewinnen können: denn «manche freilich müssen drunten sterben».


Und diese sind meistens schwarz, weiblich und arm.

Und manchmal entlädt sich der seelische Kampf gegen die Fesseln der Diskriminierung und der rassistischen Erzeugung durchdringender Ohnmacht in einer Explosion, die den Schnee der 116. Strasse aufwirbelt und Scheiben zu Bruch gehen lässt. Es gibt einen Wirbel, der manche ganz ins Verderben reisst und anderen nützt.


Danach sinkt der Schnee dann wieder.


Ann Petry, The Street, New York: Houghton, Mifflin and Harcourt, 11946, neue Ausgabe 2020; deutsche Ausgabe: Nagel & Kimche, 2020

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