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Spuren im Sand – Militärtraining im Beduinencamp
Bild/Illu/Video: Livia Amstutz

Spuren im Sand – Militärtraining im Beduinencamp

Die Rashayidas gehören zu einem Beduinenclan. Sie leben in der steinigen Wüste am Rand des Jordantals im Gouvernement Bethlehem in der Westbank. Das nächste Dorf ist 5 Kilometer entfernt, Bethlehem erreicht man in etwas mehr als einer Autostunde. Ayed ist der jüngste der Rashayida Brüder und lächelt verlegen, als er erzählt, dass er selbst noch nicht verheiratet ist.




















Aber warum sind wir hier? Nicht um aromatischen heissen Chai zu geniessen und zu plaudern. Nicht um den atemberaubenden Ausblick bis hin zum Toten Meer zu bewundern. Nein, wir sind wegen des Militärtrainings hier. Direkt hinter den Wohnzelten und den Verschlägen für die Tiere, dort, wo die Kinder sonst herumsausen, dort wo die Familie mit ihren Tieren auf die Weide geht, fand vorige Woche eine Militärübung des IDF, Israeli Defence Forces, statt. Ohne Vorwarnung oder Information standen plötzlich 2 Panzer, 2 Jeeps und 8 Soldaten da. Ayed zeigt uns die Stelle. Die Spuren der Militärfahrzeuge sind im sandigen Kies noch deutlich zu sehen. So nah! Das sind keine 100 Meter!


«Die Soldaten haben nicht mit uns gesprochen» erzählt Ayed und schüttelt verständnislos den Kopf. Die Familie wusste nicht was passiert oder wie lange das Militär bleibt. Die Soldaten übten Manöver, schossen mit scharfer Munition und zündeten Granaten und Bomben. Von mittags bis abends um 22:00 dauerte das an. Sieben Tage lang. Die Kinder konnten nicht schlafen und waren verängstig – die Erwachsenen auch. Die dünnen Zeltwände würden kaum vor einem Querschläger schützen.

































Das Land, auf dem die Familie Rashayida lebt, befindet sich in Area C. Das bedeutet, dass hier die volle Kontrolle über Sicherheit und Verwaltung bei Israel liegt. Ca. 60 % des Westjordanlandes zählt zu Area C und ist Heimat von 300'000 Palästinenser:innen. Die verbleibenden Gebiete sind in Area A (ca. 18%) und B (ca. 22%) aufgeteilt. In Area B hat die PA, Palästinensische Autonomiebehörde, die Verwaltung unter sich, die Sicherheitskontrolle wird jedoch mit Israel geteilt. In Area A hat die PA die alleinige Kontrolle über Verwaltung und interne Sicherheit.[1]


Israelische Behörden erklären immer wieder Landstücke in Area C zu sogenannten «firing zones», also zu Militärübungsplätzen. Dabei nehmen sie keine Rücksicht auf Nachbarn, anderweitige Nutzung des Landes oder Eigentumsverhältnisse. Diese «firing zones» können temporär oder dauerhaft eingerichtet werden. Fast 30 % des Area C Gebietes gilt als «firing zone».[2] Beduinenfamilien sind häufig von der Einrichtung dieser Trainingsplätzte betroffen, da sie weit draussen in – vermeidlich – leerer Landschaft leben. Die Menschenrechtsverletzungen, die solche «firing zones» mit sich bringen sind vielfältig: Recht auf den Zugang zur Sicherung des Lebensunterhaltes, Recht auf Zugang zu Grund und Boden, Recht auf Schutz vor Belästigung.

Die Familie Rashayida besitzt 300 Tiere. Die Ziegen, Schafe und Kamele sichern ihren Lebensunterhalt. Wenn die Tiere wegen der «firing zone» nicht auf die Weide können, ist der Lebensunterhalt der Familie gefährdet. Futter kaufen ist für die Familie finanziell nicht tragbar. Ausserdem ist die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Während des Militärtrainings und auch danach, denn das Militär hat Reste und Abfälle von Munition, Bomben und Granaten einfach liegen gelassen. Wer nimmt sich der gefährlichen Aufgabe an und räumt das auf? Als wir da waren, hat das noch niemand gemacht. Ayed berichtet uns, dass die ganze Familie ständig ein Auge darauf hat, dass die Kinder nicht dorthin laufen, wo die Militärübung stattgefunden hat. Es kommt vor, dass Kinder sich  an zurückgelassenen explosiven Materialien verletzten. In einem Dorf in der nördlichen Westbank hat ein 15-jähriger Junge auf diese Weise den Daumen und die Fingerkuppen seiner linken Hand verloren. Er sah Kinder mit Hülsen von Blendgranaten spielen und hat sie den Kindern weggenommen. Die Granate explodierte in seiner Hand.[3] Im Jahr 2020 sind in Palästina (Westbank, Ostjerusalem, Gaza) 8 Kinder durch liegengelassene explosive Materialen verstümmelt worden. Ein Kind ist sogar gestorben. [4]




















Im Gespräch mit Ayed wird deutlich, wie sehr ihn die Situation mitgenommen hat. Mehrmals erwähnt er, dass die Familie nicht wusste, wie lange die Soldaten bleiben und dass keinerlei Kommunikation stattgefunden hat. Er scheint in seinem Stolz verletzt, so respektlos behandelt worden zu sein. Obwohl Ayed vor allem über die Sorge um die Sicherheit der Kinder spricht, meine ich zu sehen, dass auch er Angst hatte.


Als ich Ayed treffe, bin ich erst wenige Tage in der Westbank im Einsatz. Trotz Vorbereitung und Training für die Arbeit als Menschenrechtsbeobachterin, wird mir im Treffen mit dieser Familie zum ersten Mal richtig bewusst, was es bedeuten muss, in Unsicherheit zu leben. Nach 74 Jahren unter israelischer Besatzung sitzen das Misstrauen und die Furcht dem israelischen Militär gegenüber in der palästinensischen Gesellschaft tief. Jeder kennt jemanden der verletzt, getötet oder verhaftet worden ist. Militärgewalt ist allgegenwärtig. In der Westbank sind im Jahr 2022 durch Waffengewalt 154 Palästineneser:innen getötet und 9901 Palästinenser:innen verletzt worden.[5]


Es ist ruhig im Auto, als wir nach unserem Besuch langsam auf der steinigen Strasse Richtung Bethlehem zurückholpern. Wir sind betroffen von der Lebensrealität dieser Familie und hängen alle unseren Gedanken nach. Ein Auto kommt uns entgegen. Der Mann am Steuer winkt und hupt. Es ist Farhan, der frischgebackene Papa, zwei seiner Brüder und Farhans Frau mit dem jüngsten Mitglied der Rashayida Familie im Arm. Ein freudiges Grüssen und Gratulieren beginnt. Mohammed kennt die Familie schon lange. Farhan setzt sich kurzerhand zu uns ins Auto und dirigiert Mohammed zu einer Bäckerei im Dorf. Farhan lädt uns zur Feier des Tages zu frischem, süssem palästinensischem Gebäck ein. Während wir am Tisch sitzen, lachen und uns über das neue Leben freuen, lässt mich ein Gedanke nicht los: Wird Farhans Tochter je ein Palästina ohne Besatzung erleben?


EAPPI (Ecumenical Accompaniement Programm in Palestine and Israel), gegründet vom World Council of Churches, sendet seit 20 Jahren Menschenrechtsbeobachter:innen nach Palästina. Menschenrechtsbeobachter:innen stehen der lokalen Bevölkerung in Konfliktgebieten durch schützende Präsenz zur Seite und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. In der Schweiz wird EAPPI durch Peace Watch Switzerland vertreten. Weitere Infos und Augenzeugenberichte auf: www.peacewatch.ch


[1] https://www.aljazeera.com/news/2019/9/11/what-are-areas-a-b-and-c-of-the-occupied-west-bank

2 https://www.ochaopt.org/content/firing-zones-and-risk-forcible-transfer

[3] http://www.eappi-netzwerk.de/explosiver-alltag/

[4] https://www.un.org/unispal/document/children-and-armed-conflict-report-of-the-secretary-general-a-75-873-s-2021-437-excerpts/

[5] https://www.ochaopt.org/data/casualties


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