«Es ist sicher keine Zusammenfassung von Wohlfühlmomenten»
Bild/Illu/Video: zVg

«Es ist sicher keine Zusammenfassung von Wohlfühlmomenten»

Schmid wählt dafür die Form eines akribischen Tagebuchs sowie Rückblenden auf markante Momente zwischen seiner Mutter und ihm. Ungeschönt zeigt er wie von einer naiven Liebe als Kind irgendwann nur das blanke Entsetzen und die Wut darüber bleiben, dass es keine Waffe gegen den übermächtigen Gegner Alkohol gibt. «Abschiede von Mutter» ist ein seltener, authentischer Einblick in eine Familie am Rand der sozialen Verwahrlosung, ein starker literarischer Text und vielleicht am meisten ein Plädoyer gegen die Sucht. Dass dieses Buch fast gleichzeitig mit der Biografie «Ich bin die Hummel» erscheint, sei gar nicht so geplant gewesen. Die beiden Bücher haben laut Schmid auch nichts miteinander zu tun, abgesehen davon, dass er beide geschrieben habe. «Die beiden Werke unterscheiden sich in Tonalität und Inhalt. Alles in allem reiner Zufall.»


Hoffnung zwischen den Zeilen
Und in der Tat: Während «Ich bin die Hummel» das Leben zelebriert und motiviert für die eigenen Ideen einzustehen, ist «Abschiede von Mutter» eher starker Tobak. «Es ist sicher keine Zusammenfassung von Wohlfühlmomenten, aber dennoch steckt eine grosse Positivität darin. Es hat Hoffnung. Es vergibt. Dagegen ist ‘Ich bin die Hummel’ ein Snack. Schnell gelesen und schnell verdaut. ‘Abschiede von Mutter’ verfügt über wesentlichere Tiefen, das Buch ist mir auch entsprechend wichtiger.» Das Leben mit einer alkoholkranken Mutter sei nie wirklich einfach gewesen. Rückblickend sieht Gian-Marco Schmid aber nicht nur Schatten. «Resignation gab es immer wieder, aber genauso gab es auch sehr lange noch Hoffnung.» Und doch habe die Sucht seiner Mutter irgendwann dazu geführt, dass er mit ihr gebrochen habe. Schlussendlich seien es viele und immer wiederkehrende Episoden gewesen, die ihn irgendwann vertrieben hätten. «Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass es keinen Sinn macht, mit meiner Mutter einen Weg zu gehen, der nur Schaden anrichtet – ich hatte genug Probleme mit mir selbst, auch wegen ihr.»


Im Stich gelassen worden als Kind
Der Tod seiner Mutter im Oktober des vergangenen Jahres habe in ihm einiges aufgewühlt. «Im Buch steht das genaue Datum der Tage, an denen ich den Text verfasst habe. Es begann mit der Nachricht meiner Schwester und endete am Grab.» Dieses Buch zu schreiben, habe sich als Verarbeitung richtig angefühlt. «Ich hatte keinen Vorsatz, diesen Text zu erarbeiten, stellte nur abschliessend fest, dass ich das Buch niemals geschrieben hätte, solange sie noch lebte.» Heutzutage schreitet bei Eltern, die in einer Suchtspirale gefangen sind meist die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) ein, was der inzwischen 44-Jährige überzeugt befürwortet und als richtig empfindet. Doch in seiner Kindheit in den 90ern gab es diese Organisation noch gar nicht. Als Kind habe er sich nicht oft alleine gelassen gefühlt. «Ich war meistens beschäftigt und es gab nicht wirklich viel Langeweile. Ausserdem hatte ich jeden Tag zu tun und war draussen. Es gab einen Freundeskreis, ich war im Sportverein.» Dieses Gefühl habe er erst viel später erlebt, als grosse Lebensentscheidungen nicht durch ein Familienvermögen oder sonstige Hilfe unterstützt werden konnten. «Dass es einfach ‘nicht geht. Ende.’ Das tat mir sehr leid und es tat auch niemandem gut, dass es so war. Im Erwachsenenalter manifestierte sich schon ein Gefühl von im Stich gelassen worden sein als Kind.»


Betroffenen «Löwenzahnkindern» helfen

Von Gian-Marco Schmid oder «Gimma» ist die Öffentlichkeit eher witzige Texte und skurille Aktionen gewöhnt. Da sind diese neuen Texte eine Geschichte, an die er sich sogar selbst zuerst noch gewöhnen müsse. «Ich werde an den kommenden Lesungen sicher immer aus ‘Abschiede von Mutter’ lesen, aber mit Sicherheit auch ein paar andere Texte einstreuen, um es nicht zu schwer zu gestalten.» Es sei sehr schwer seine Wahrheit auch persönlich vor Publikum zu erzählen. «Das wird nicht mein Hobby in dieser Form, es schlägt schon ziemlich aufs Gemüt.» Das Buch selbst sei nicht nur Psychohygiene, sondern habe grundsätzlich das Ziel, möglichst viele Leute zu erreichen und etwas in Gang zu setzen. «Was die Lesenden aus dem Text ziehen, kann ich nicht beantworten. Bislang kennen den Text erst vielleicht knapp 100 Leute überhaupt, es gab also entsprechend erst eine Handvoll Feedbacks.» Während der Kreation habe er schon Versionen an Leute, die ihm nahestehen, geschickt und dort entsprechendes Echo ausgelöst. «Jetzt hoffe ich, dass es viele Leute irgendwie berührt.» Es gebe am Ende des Buchs noch einen Verweis auf die «Löwenzahnkinder». «Diese Gruppe ist speziell für Kinder von Eltern mit Suchterkrankung und zwar allen Alters. Dort finden Betroffene Anschluss und Informationen.»


Zum Autor
Gian-Marco «Gimma» Schmid ist ein Autor und Musiker aus Graubünden. Sein bisheriges Werk umfasst über zwanzig Alben und vier Bücher. Er textet in Schweizer Mundart und Deutsch. 2011 erhielt er den «European Music Award» für sein Album «Mensch si». Er ist zudem Anerkennungspreisträger in kulturellen Belangen seiner Heimatstadt Chur und war nominiert für den «Prix Walo» sowie mehrfach für den «Swiss Music Award». Er gibt in der ganzen Schweiz Workshops für kreatives Schreiben und Musik und hält Vorträge zu Sozialthemen. Er lebt in Haldenstein. Mehr zu Gian-Marco Schmid finden Sie unter http://www.gimmasworld.ch.

Themenverwandte Artikel

Die neue Perlensammlung «Kartellmusig»
Bild/Illu/Video: zVg.

Die neue Perlensammlung «Kartellmusig»

Buchtipp: «Ich bin die Hummel» von Gian-Marco Schmid
Bild/Illu/Video: zVg

Buchtipp: «Ich bin die Hummel» von Gian-Marco Schmid

Empfohlene Artikel